TEXTPROBE 4

PURES SICH SEIN

@ | Mario Romano | veröffentlicht 2010 : scriptura : Jahrespublikation über Schreibkultur, Schreibgeräte und Accessoires

Beherrscht man das Zehn- Finger-Schreibsystem, könnte man fast behaupten, dass das Schreiben selbst einem zum digitalen Wesen formt. Benutzt man eine Füllfeder, ist man mit der charakterlichen Entwicklung des Menschen verbunden.

Im Moment der Konzentration, beim Tippen auf eine Tastatur, transformieren wir zu einer angepassten Lebensform, worin die Individualität allein in der Ausdrucksform des Geschriebenen zum Vorschein kommen kann. Digitale Formate wie Wordfile, InDesign-Vorlage oder andere Textverarbeitungsprogramme bekommen dennoch keine wirkliche authentische Ausdrucksform, unabhängig davon, ob wir diese mit Farbe, Muster, Rahmen oder einer anderen Schriftform darstellen. Wir passen uns damit einem System an, bei dem sich die Seele des Schreibenden nur sehr begrenzt zeigen kann.

Im Gegensatz zu den Benutzeroberflächen der ersten Computer können die privaten User heute ihrem Geschriebenen mehr Ausdruck verleihen. Vorwiegend auf Plattformen wie MySpace oder Facebook kann das Mitglied durch eine Anzahl von grafischen Möglichkeiten seinem Inhalt ein Gesicht geben, wie sich der User digital selber gerne sehen möchte. Eine wiederum sehr begrenzte Form der Individualität. Dass einige der Mitglieder unter den vielen Benutzern das gleiche Gesicht haben, ist wohl unumgänglich und muss man in Kauf nehmen. Man kann nun behaupten, dass die eigentliche Individualität bei Facebook und Co. das Veröffentlichen von Bildern und Texten sei. Hat das dazu geführt, dass das Internet „schöner“ oder „niveauvoller“ geworden ist? Überreicht man einer Person ein besonderes Schreibgerät und ein schönes weisses Blatt Papier, wird es 99 von 100 Schreibenden vermutlich wie folgt ergehen: Entweder ist man noch voll in einer pubertären Phase gefangen, so missbraucht man das Format in Weiss, um seinen Widerstand ausdrucksstark aufzuzeichnen, oder der Schreibende wird von einer Aura des Stilvollen erfasst. Unweigerlich wird er durchflutet von einem inneren Wissen, dass er sich in diesem Moment von einer sehr verletzlichen und authentischen Seite zeigen wird. Der beginnende Schreibende fühlt, dass er nun auf einer sehr respektvollen Ebene mit dem Angeschriebenen in Kontakt tritt. Es wird ihm bestimmt nicht in den Sinn kommen, seine eigenen Worte hinzuschreiben, als würde er dem Empfänger vor die Füsse spucken. Selbst wenn der Schreibende in Wut und Rage ist, was bestimmt Auswirkung auf die Schriftform haben wird, geht der Schreibende hin und versucht Haltung zu bewahren.

Eine kostbare oder preislich anspruchsvollere Füllfeder in der Hand zu halten, ist eine kleine Form, sich seiner selbst bewusst zu werden, im Moment, da man einem anderen Menschen schriftlich begegnen will. Wahrscheinlich spüren oder wissen wir, dass die Konzentration viel grösser ist und eine völlig andere innere Essenz besitzt als beim Schreiben eines elektronischen Briefes. Schon am Anfang des Briefes, bevor man überhaupt ein Wort geschrieben hat, möchte man mit Bestimmtheit beim Empfänger Eindruck hinterlassen. Mit den geschriebenen Worten tritt man dem Gegenüber auf eine besondere Weise „persönlich“ entgegen. Wenn man heute einen Brief von Hand schreibt, ist es mehr und mehr ein Zeichen, welche Wertschätzung der Angeschriebene empfangen darf. Es ist kein zurückgebliebenes Muster aus der Kindheit oder Schulzeit, dass man gerade am Tisch sitzen muss und einem eine Autoritätsperson im Nacken sitzt und stets ermahnt, schöner zu schreiben. Wenn wir von Hand schreiben, zeigen wir sehr viel mehr von uns, als wir selbst in dem Moment erfassen. Da wir Menschen zu einem bestimmten Grad die Hoffnung an das Gute im Menschen bewahren wollen und es wohl täglich einmal wünschen, es zu erleben, ist das Ansetzen mit der Feder auf dem Papier ein würdevoller Akt, der tief in der menschlichen Evolution seine Wurzeln besitzt. Es wurde in Stein gemeisselt, es wurden Gesetze auf Papyrus gepinselt und staatliche Manifeste auf Pergament verewigt. Dieses Wissen besitzt eine Wirkung, wenn wir zum Schreiben ansetzen. Das Schreiben von Hand ist ein Zeichen an der puren Teilnahme am Da-Sein und dem Moment.

Ist man einmal für eine längere Zeit in Chatrooms oder Begegnungsforen wie MSN oder Skype gewesen, kann man erkennen, wie schnell das Tippen einem zu Schnoddrigem oder Gleichgültigem verleiten kann. Von literarisch Anspruchsvollem bis zu abgrundtiefstem Primitivem kann da einem Vielfältiges in geschriebener Form begegnen. Oft hat in diesen Foren das Geschriebene keinen Wert. Es wird einfach getippt. Der Buchstabe wird in seiner ganzen Fülle nicht mehr gebraucht. Er wird einfach benutzt, um ein Wort zu schreiben und damit so schnellstmöglich etwas zu sagen, zu beurteilen oder um zu manipulieren. Da diese digitale Welt im Grunde eine kalte Welt ist, zeigen sich die Emotionen der User in einer ungefilterten Form. Es gibt kaum bedachtes Schreiben. Der Gedanke kommt im direkten Weg auf den Bildschirm. Das Ego, der Trieb, der Wunsch oder die Hoffnung verführt den Schreibenden oft dazu, sich durch seine Worte so nackt zu zeigen, dass es einem manchmal zur Tipp-(Sprach)losigkeit führt. Das Fatale, das durch diese Schreibform gefördert wird, ist die Auflösung der Selbstbeobachtung. Viele User in diesen Foren verfallen total ihrem inneren Mob und übernehmen die Kommunikationsformen der lautstark Schreibenden, ohne zu erkennen, dass sie damit ihre eigene Schreibform vergewaltigen oder infantil modernisieren lassen.

Die Regeln, die in solchen Foren von den Usern eigentlich zu beachten wären, verleiten dazu, die Schreibkultur einen Infantilismus annehmen zu lassen, der kaum noch rückgängig zu machen ist. Alles darf geschrieben werden, ausser was erotischen, pornografischen, rassistischen, diskriminierenden, beleidigenden oder drohenden Inhalt besitzt. Doch weil kaum jemand wahrlich Interesse hat, sich wenigstens an diese Regeln zu halten, nimmt auf vielen Ebenen der digitalen Kommunikation in diesen Plattformen die Zweideutigkeit ungeahnte Formen an. Das Geschriebene wird mehrheitlich eingesetzt, um zu manipulieren, zu lügen, zu irritieren, indirekt zu beleidigen und noch so einiges an neurotischen Zügen. Diese Foren sind auch hilfreiche Plattformen, auf denen der User viel Unausgesprochenes, was er im Alltag nicht zum Ausdruck bringen darf oder kann, unzensuriert, schreiend, klagend, verachtend und hilfesuchend ungeschminkt herausschreiben kann. Und erschreckend ist, dass vor allem Erwachsene, also auch sehr viele Eltern von Kindern, sich dieser Form des Schreibens „opfern“. Dabei könnten genau solche Internetplattformen die idealen Schreibsalons sein, um sich im eleganten und stilvollen Schreiben zu üben. Es sind nicht viele Menschen Meister des geschriebenen Wortes. Viele Menschen hätten so viel zu sagen, aber sie können es nicht schreiben, selbst das Tippen fällt vielen schwer.

Wenn der beobachtete infantile Trend weiter anhält und die Schreibkultur digital in den Sumpf zieht, dann ist heute schon das Schreiben von Hand eine Ausdrucksform des reifen und würdevollen Begegnens einem anderen gegenüber. Ein reines Hand-Werk, worin die Haltung und die geistige wie die emotionale Hingabe erfüllt sind von einem Glauben, dass die Form der Begegnung wahre Manifeste sind. Und die Zeugnisse dieser Tat sind die Briefe, die verschiedenen Papiere, worauf jedes Wort seine Reinheit besitzt, weil es nicht einfach durch die Delete-Taste gleich wieder vernichtbar ist. Auch ein falsches Wort ist richtig, weil man auch damit beim Durchstreichen oder Radieren nochmals konfrontiert wird. Das Schreiben von Hand ermöglicht uns Menschen, uns selbst besser zu spüren und zu fühlen. Das Schreiben von Hand führt uns vom Geist über das Herz und über die Hand zur Hand des anderen, zu seinen Augen und zu seinem Geist und dann zum Herzen. Solches erlebt man in den Chatrooms nicht, denn es gibt kein Zeugnis, das man in Händen halten kann:  den Brief.