KENN _ 2

@ | Mario Romano | 2014 : erschienen September 2014 für den Kunden Sputnik Informatik GmbH

Frankenstein’s Erbe (Auszug aus dem Roman)

kapitel : AKTIVIERT

Als wäre ein Teil ihres Körpers erstarrt, so bewegte sich Emmanuelle Blanc langsam wie ein lebloser Klotz im Kontrollraum auf und ab. All das, was sie in den letzten zwei Tagen erfahren hatte, begann ihre leichte Lebensart zu überschwemmen. Wassermassen der Enttäuschungen stürzten über sie ein. Das bisher Gewohnte fiel auseinander, zerbrach in der Mitte wie ein Ei und heraus kroch ein Monster namens Verrat. Von allen Seiten schoss der Verrat in ihre Richtung. Einzig der noch nicht erwachte Körper hatte sie bis zu diesem Augenblick nicht auch noch enttäuscht. Was geschah, wenn aus diesem noch nicht wirklich lebenden Wesen etwas werden sollte, das ein unvorstellbares Mass an Zerstörung und somit auch Verrat mit sich bringen würde? Was, wenn der ganze Sinn ihrer Arbeit in etwas endete, das sie als Mensch vollkommen überwältigen würde und sie nicht mehr ertragen konnte? Was, wenn ihre moralischen Werte, ihre kleinen Idealen so dramatisch zertrümmert wurden, dass danach nur noch Leere folgte, die vielleicht eine so feine Seele wie die ihre nicht verkraften konnte.
Ramsen betrat plötzlich wieder den Kontrollraum. Er schaute sie direkt an, was ihr im ersten Moment fast den Atem nahm. Ihre Angst kroch wieder wie ein heisser weicher Draht von den Füssen durch die Beine, quer stechend durch ihren Bauch, bedrohlich in Richtung Herz, was dieses stürmisch aufpochen liess, und weiterzog in beide Arme. Es fühlte sich an, als würde sie gleich sterben. Nur die Angst war das Lebendigste in ihr.
– Sie haben den Code aktiviert … raunte Ramsen ihr beinahe kalt zu. In seinem Blick war auch ein Ausdruck der Unfassbarkeit und gleichzeitig ein Ausdruck, der zu sagen schien, dass jetzt das Unfassbare sich ins Fassbare, in etwas Wirkliches verwandeln würde.
Sekundenschnell verwandelte sich die Angst in Emmanuelle in Panik vor dem, was nun kommen würde. Ihr Herz pochte nicht mehr rasend vor Angst, sondern vor dem Wissen, dass sich nun alles schlagartig verändern würde. Nichts würde jemals wieder so sein, wie es war. Das, was vor Minuten noch existierte, würde zerstört werden. Alles, worauf ihr Dasein stand, würde sich unter ihren Füssen verwandeln. Es gab nichts, worauf sie nun bauen konnte. Auch sie selbst würde sich verändern …
— Ich weiss zu viel. Viel zu viel. Was mache ich nun mit mir und diesem Wissen? —
Fragen über Fragen über Fragen. Ein rasendes Herz und ein Körper, der dabei nicht wusste, was er bei all dem tun sollte …
– Wie lange wird es nun dauern, bis die Software den Code in alle Abläufe integriert hat? … fragte Emmanuelle mit einer fast flüsternden Stimme.
– Gemäss Ihren Berechnungen und zusammen mit den Auswertungen, die ich von den Kollegen aus der Ebene 8 erhalten habe, werden in fünf Stunden die ersten kleinen Generatoren sich aufladen und erste elektrische Plasmaimpulse an die ruhenden Nanopartikel gesandt. Diese werden sich dann aufladen und ihre Funktionen aufnehmen.
– Sie waren in den Räumen von Ebene 8? … fragte Blanc erstaunt, aber immer noch mit einer gewissen Erstarrtheit …
– Ich dachte, dort seien nur die Wohnräume der Hilfskräfte, die dort auch teilweise wie Tiere gefangen gehalten werden. Man kann ja auch mit Gefangenen experimentieren.
– Ebene 8 ist zu einem gewissen Teil die Unterkunft aller Hilfsarbeiter der Wartung, Reinigung, Küche und so weiter. Aber wie Tiere werden sie dort bestimmt nicht gehalten. Wieder so ein Märchen, dem Sie verfallen sind. Zudem will ich jetzt bestimmt nicht über solche Nebensächlichkeiten mit Ihnen diskutieren. Es wird Zeit, dass wir alle oberflächlichen Dioden aus seinem Körper nehmen. Und reiben Sie ihn mit der bestimmten Creme ein, um ihn für die Aktivierung der Hautzellen vorzubereiten.
— Er lügt … Er lügt mir direkt ins Gesicht. Ich kann es ihm ansehen.
Ich wusste eigentlich stets, dass er mir so viel vorenthalten hat … dachte Emmanuelle … Irgendwie beschleicht mich das Gefühl, er ist nicht wirklich dieser fanatische Wissenschaftler, der nur für seine wissenschaftlichen Ziele lebt, der den Tod seiner Frau in der Arbeit ertränkt hat. Dieser Mann führt etwas im Schilde —
– Was kann ich tun, Professor? … fragte sie, dastehend wie ein Schulmädchen.
Ramsen war kurz irritiert und starrte sie fragend an, warum sie plötzlich eine so unterwürfige Haltung einnahm. Aber er wollte jetzt keinerlei persönliche Gespräche führen. Er dachte nur noch an seine Rache. Er riss sich gleich wieder aus dieser persönlichen Frage an Emmanuelle heraus und antwortete knapp …
– Ich habe es Ihnen doch eben mitgeteilt. Die Dioden an der Oberseite des Körpers entfernen und mit der Creme vorbereiten. Und überwachen Sie die Implementierung der icons.
Emmanuelle bewegte sich wie ein Roboter, trat an die grossen Überwachungsscheiben, berührte ein paar Flächen auf dem Glastisch, und die Daten zur Überwachung der Implementierung der icons in das Erweckungsprogramm für KENN verteilten sich auf drei Glasscheiben zu ihrer Rechten. Verschiedene Fenster, Diagramme, Berechnungssequenzen und ein Fenster mit den Abläufen der letzten icons. Sie tippte auf ein paar Stellen auf dem Glastisch und der Download und die Implementierung der restlichen icons begannen.
Ein Ordner mit der Bezeichnung Sputnik Informatik erschien. Achtzehn icons waren in diesem Ordner. Automatisch wurden alle in einer Reihe platziert. Ein Analyseprogramm entnahm die Details der Linien, der Kreise und gebogenen Linien. Das Analyseprogramm begann, jedes icon in seine Einzelteile zu zerlegen, um die Abweichungen dieser Einzelteile, die in die Zehntelmillimeter gingen, zu korrigieren.
Emmanuelle schaute zu, wie vor ihren Augen ein Spiel mit all den Details aus diesen icons begann. Der Prozess der Zerlegung der icons und dann die darauffolgende Zusammenstellung gemäss ein paar Skizzen, die als einzige auf einer der noch vorhandenen Seite in Victor Frankensteins Tagebuch abgebildet waren, benötigte nach einer Simulation ungefähr fünf Stunden. Orange Linien, schwarze Kreise mit weissem Innenraum, alles begann sich ineinander, übereinander, nebeneinander zu bewegen. Als wären alle Teile herumirrende Wesen, die einander suchten, um eine geheimnisvolle Gemeinschaft zu bilden. Ein Tanz der Teile. Teile, die am Ende den Nanopartikeln an den alten Nahtstellen Informationen senden würden, um die gerissenen und teilweise sehr losen herkömmlichen Nahtstellen zu verbinden. Jede Zelle sollte sich mit der ihr dazugehörenden Zelle vereinen.
Sah man die Schöpfung von Victor Frankenstein nur von der Seite, wie er dieses Wesen grobschlächtig zusammengeflickt hatte, wie junge Burschen eine Baumhütte zusammennageln würden, dann war es keine Frage, dass die Geschichte in der Welt als ein Märchen angesehen wurde. Dass die Idee über die Möglichkeit, Tote zum Leben zu erwecken, in der Welt der Wissenschaft und Medizin nur Hohn ernten konnte, lag auf der Hand, weil die moralischen Werte des Menschen sich selbst Grenzen setzen mussten. Moralische Werte konnten Geborgenheit geben. Für Menschen, für die es einen göttlichen Richter gab, waren die moralischen Werte Hausaufgaben, für die sie dann am Ende Noten erhielten.
Emmanuelle sass immer noch starr auf ihrem Stuhl und schaute dem Schauspiel der Neuerschaffung der icons weiter zu. Ramsen neben ihr tippte diverse Vorgänge, die in einigen Stunden den Lohn seiner vielen Jahre hier in White Area weit oben im Norden von Norwegen sein sollten.
Emmanuelle dachte an das, was wäre wenn. Was würde sein, wenn Carl Millers Informationen im vollen Umfang der Wahrheit entsprachen? Nicht auszumalen, welche machtbesessenen Erdenmenschen versuchen würden, sich das alles anzueignen, was es alles mit sich brachte.
Ihr Körper löste sich langsam aus der Panik und sie wurde weicher. Aber nur, weil eine unendliche tiefe Enttäuschung sich in ihr wie ein schleichender Wurm ausbreitete. Sie schaute zu Ramsen hin und erkannte, dass sie irgendwie dieselbe Besessenheit in sich trugen. Traurig schaute sie ihr grosses Vorbild an. Plötzlich erschien ihr der geliebte Professor wie ihr nie gekannter Vater.
– Warum schauen Sie mich so an, Emmanuelle, was ist los?
– Nichts! … Sie drehte den Kopf wieder zu den vielen flirrenden Daten, tanzenden Graphiken und Diagrammen. Schönes strenges Design. Perfekte Daten und Anordnungen. Ein Ästhet in der Programmierung musste das gewesen sein. Ach, das war ja ich. In Gedanken ein kleines Schmunzeln, doch das Ganze war von einer Schwere, in der kein Platz für einen Hauch von Freude blieb.
– Emmanuelle…Ich gehe kurz in mein Quartier. Bitte beobachten Sie auch meine Überwachungsdaten. Alle zwanzig Minuten wird zwischen den meinen und den Ihren ein neues Interface entstehen. Dieses wird sich selbständig in die Energiematrix einbauen. Ich muss Ihnen das nicht alles erklären, den grössten Teil haben Sie ja selbst programmiert.
– Ja Professor, ich kenne die Entwicklung. Sie können sich ruhig in Ihr Quartier für mehrere Stunden zurückziehen. Wenn ich den Zeitpunkt erkenne, wann Sie langsam hier sein müssten, sende ich Ihnen eine SMS. Sobald die automatische Neuformatierung der icons Stufe 4 erreicht hat, sind wir auf der sicheren Seite. Ein Zeichen, dass die Formatierungen sich erfolgreich entwickelt haben. Dann habe ich das Zeitfenster, um KENN einzureiben.
– Danke, ich weiss, ich kann mich auf Sie verlassen. Wie immer.
Nach diesen Worten drehte sich Ramsen um und verliess auf schnellstem Weg den Kontrollraum.
Als sich die Türe hinter Ramsen schloss, legte sich neben der tiefen Traurigkeit, die Emmanuelle immer noch spürte, eine grosse Verlorenheit wie ein nasser dicker schwerer Poncho auf ihre Schultern. Kein Laut. Keine Computergeräusche, kein Ventilator. Nichts. Alles war so still. Aussen wie auch in ihr selbst.

 

kapitel : RACHE

Ramsen schnappte sich einen Segway und raste mit Höchstgeschwindigkeit in Richtung Lift. In seinem Kopf spürte er die berühmte Ruhe vor dem Sturm.
— Jetzt will ich wissen, ob die Amerikaner Wort halten…dachte er nur kurz. Am Lifteingang angekommen, drückte er ungeduldig den Knopf nach oben. Die Ruhe in seinem Kopf durchzog auch seinen ganzen Körper. Jetzt hätte sich der Boden öffnen können. Nichts, absolut nichts konnte ihn nun aufhalten, die Ziele zu erreichen, die er seit Jahren geplant hatte.
Er stieg in den Lift, drückte Etage 2+, die Wohnetage für die Führungsebene, genoss die Ruhe und das leichte Schweben, das der Lift hinterliess. Er erreichte Etage 2+ und schnappte sich dort wieder einen Segway. Angekommen in seinem grosszügigen Wohnbereich lief er direkt in den kleinen, sehr geschmacksvoll eingerichteten Wohnbereich zu seiner kleinen Bar. Ein feines Klopfen auf eine schwarz glänzende Frontseite genügte und sanft und leise wie Flügel breiteten sich die beiden kleinen Portale der Bar aus. Den kommenden Geschehnissen und der besonderen Stunde konnte er am besten mit einem alten Highland Whisky huldigen. Scharf feurig im Empfang, explosiv durch ein paar prägnante Holz- und Torfnoten, breitete sich der Whisky voluminös beim Hinabstürzen am Herzen vorbei aus.
Nach dem fast meditativen Genuss der ersten Schlucke schenkte sich Ramsen weiter kräftig nach und griff geschickt beim Abstellen der schweren bauchigen Flasche nach dem Prepaidhandy, das hinter zwei anderen Flaschen versteckt lag. Obwohl er stets die Bestätigung bekam, dass sein Wohnbereich anscheinend vollkommen kamera- und wanzenfrei sein sollte, traute er trotzdem niemandem.
Er liess das Handy geschickt in der rechten Manteltasche seines weissen Kittels verschwinden und setzte sich genüsslich in seinen grossen Ledersessel von imperialen Ausmassen. In der linken Hand das schwere Kristallglas, die rechte in der rechten Kitteltasche, die langsam in ruhigen Bewegungen das Handy aktivierte. Nach der dritten Vibration seines Handys wusste Ramsen, dass es aktiv war. Er ging zu einem Sideboard, öffnete eine der Schubladen und tat so, als suche er darin etwas Bestimmtes. In der rechten Hand das Handy haltend, tauchte er damit tief in den hinteren Teil der Schublade ein und tippte dort blitzschnell einige Tasten. Er entnahm der Schublade ein paar Unterlagen. Das Handy wurde dabei geschickt zwischen den Unterlagen versteckt.
Ramsen liess sich wieder in seinen feudalen Sessel fallen und wartete. Ein weiteres Vibrieren seines Handys sagte ihm, dass die Amerikaner, aufgrund seines Anrufes einer bestimmten Nummer, seinen Wohnbereich durch eine digitale Frequenz für jede Form der Überwachung blockiert hatten.
Es vibrierte erneut. Er wartete dreissig Sekunden, nahm das Handy und wählte eine Nummer.
Das Knacksen einer Leitung, eine Stimme …
– Guten Abend, Professor Ramsen. Ist es soweit?
Ramsen liess sich einen kurzen Moment Zeit, atmete ruhig durch und antwortete …
– Ja, der eine Moment ist gekommen. Ich habe eben die Bestätigung erhalten.
– Was sind Ihre nächsten Schritte? Wann ist der Countdown? … fragte die Stimme am anderen Ende der Leitung.
– Senator Kaufmann, bevor Sie von mir weitere Informationen erhalten, möchte ich in sechzig Minuten erneut eine Bestätigung, dass weitere 25 Millionen Euro auf meinem Konto eingehen.
– Ramsen, die Abmachung war, die restlichen 35 Millionen nach der Erweckung von KENN.
– Weitere 25 Millionen…und ich lass Sie durch einen von mir selbstprogrammierten Livestream an der Erweckung teilhaben. Das ist dann meine Garantie für Sie. Sobald ich die gesamten 100 Millionen auf meinem Konto sehe, sende ich Ihnen per SMS einen Link zu einem Livestream. Ich höre von Ihnen genau in sechzig Minuten…Ab jetzt! Ramsen hängte auf.
In den sieben Jahren, die er hier in Tromsø verbracht hatte, ging er auch öfters ein paar Kilometer vom Komplex entfernt wandern. Jeden Monat einmal einen Tag. Ausgiebig und über Stunden. Unterwegs traf er diesen oder jenen Einheimischen oder Touristen. Da ein paar nette Worte, dort einen kurzen Schwatz. Als er im fünften Monat nach Irenes Tod in seinem Quartier seinen Rucksack entleerte, fiel ein kleines Stück Papier heraus. Darauf stand …
— Seien Sie vorbereitet. Jemand wird Sie in Abständen kontaktieren. Die Nachricht unbedingt vernichten —
Ramsen behielt den Fetzen Papier natürlich und untersuchte es nach Spuren. Nichts. Ein absolut sauberes kleines Blatt Papier ohne irgendwelche verräterischen Spuren, wer ihm dies wohl wie und wann in seinen Rucksack geschmuggelt haben musste. Er traf an diesem Tag ungefähr fünfzehn Personen. Fast nur Einheimische, wie ihm schien.
Ramsen empfand das mit dem Zettel als eine völlig absurde Idee. In einer Zeit jeglichen unvorstellbaren technischen Kommunikationsmöglichkeiten wurde man mit etwas so Altmodischem kontaktiert wie mit einem Stück Papier. Eine Szene wie aus einem alten Spionagefilm. Dass diese Vorgehensweise ihre Berechtigung hatte und dass dies auch sein Leben schützen würde, erfuhr er mehr und mehr in der darauf folgenden Zeit in White Area.
Als er schleichend erkannte, dass seine Frau umgebracht worden war, dass die Vorgängerin von Emmanuelle Blanc plötzlich verschwunden war, fasste er Vertrauen zu denjenigen, die ihm in unterschiedlichen Zeitabständen eine Botschaft per Papier zukommen liessen. Es vergingen zwei Jahre, bis Ramsen erkannte, dass Blackway einen Gegner hatte. Einen mächtigen Gegner. Amerikaner.
Die Organisation wurde nie genannt. Die Informationsfreigabe war von durchdachter Präzision. Seine einzige Kontaktperson zu den Amerikanern hiess Senator Kaufmann. Ramsen konnte in White Area per Computer keine Recherchen anstellen. Zu gefährlich erschien ihm die Möglichkeit, dass Blackway dahinter kommen konnte.
Eine Weile lang fühlte sich Ramsen von zwei Lagern missbraucht. Bis ihm plötzlich die Idee kam, seine Rache so auszudehnen, dass am Ende beide Seiten in irgendeiner Weise für alles verantwortlich gemacht werden konnten. Niemand sollte ungeschoren aus dieser Sache heraus kommen.
Er schaute auf die Uhr. Noch 40 Minuten.

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