TEXTPROBE 5

ANDROGYN AGAIN

© | Mario Romano | veröffentlicht 2005 : Lifestyle-Singlemagazin SUPERSOLO

ALLES oder NICHTS, das ist eine der häufigsten Aussagen, denen man heutzutage bei vielen Männern oder Frauen begegnet. Mit einer Menge von Lebenserfahrungen, Erfolgen wie Enttäuschungen, sind viele Menschen auf gewisse Weise kompromisslos geworden. Manche nennen solche Menschen Egoisten, andere nehmen sie als kalte Herzen wahr oder behaften sie mit einem anderen negativ assoziierten Ausdruck. Dabei kann diese Aussage, alles oder nichts, durchwegs als äusserst positiv angesehen werden.

Wenn man das Wort ALLES in seiner ganzen Grösse betrachtet, dann kann das für manche unendlich viel beinhalten. Fast grenzenlos viel, oder gar zu viel. Es kann auf manchen erschlagend wirken, bedrohend, kalt, brutal oder niedertrampelnd. Oder es kann Neid und Missgunst fördern, weil der Selbstbewusste sich seiner sehr bewusst ist, was er will, was ihm gut tut und was er braucht.

Wie jede Medaille hat auch das Wort ALLES seine zwei Seiten. Die Anstrengung, die gesamte Aufmerksamkeit, die das Wort ALLES von einem Menschen verlangt, kann für denjenigen, der sich seiner selbst genau bewusst werden will, eine enorme seelische Arbeit bedeuten. ALLES – bedeutet das womöglich, dass ein Mensch mit dieser Aussage auf jeder Ebene seines Wesens erfasst, berührt und herausgefordert werden will? Er ist bereit, sich einer permanenten Entwicklung zu unterwerfen. Er muss von sich aus sehr viel geben, er muss sich der Opfer bewusst sein, die er bringen muss, um an das alles zu kommen, was er glaubt, dass es ihm zustehe.

Der Psychologe J.C. Jung hat angenommen, dass ein Mensch verrückt werden könnte, wenn er sich vor dem 35. Lebensjahr zu sehr der tiefen spirituellen inneren Welt nähere, oder dass er spirituell verarmen könnte, wenn er sie ab dem 35. Lebensjahr nie finde. Jung hat im letzten Jahrhundert gelebt, in einer gesellschaftlichen Evolution, die niemals in dieser Dimension mit so vielem aus dem Alltag konfrontiert war, wie wir es heute sind. Was ist, wenn sich das heute verschoben hat. Was ist, wenn man heute behaupten kann, dass die spirituelle Entwicklung bei den Menschen schon bei 25 beginnt? Oder vielleicht früher. Wir werden ja beinahe gnadenlos mit allen möglichen Themen und Thesen, die als Ersatz für Religion dienen, konfrontiert. Und schon längst hat sie die «Zuckersäckliphilosphie» zu einer wahren Manie zur wirklichen Philosophie angeregt. Die Menschen reden und reden, sie plappern sich ihren Frust von der Seele, therapieren sich auf jegliche Art, die zur Verfügung steht. Man hat oft nur Hohn und Spott für Menschen, die am Nachmittag in diesen Talkshows auftreten und auf die infantilste Art und Weise ihre Wut, ihren Frust loswerden oder sich endlich zu outen wagen, damit sie auf eine der elementarsten Fragen: «Wer bin ich und wie wirke ich?» eine Antwort bekommen. Manche Menschen sind von einer solchen Ehrlichkeit, dass man in Betroffenheit einen dummen Spruch von sich gibt, weil diese Menschen nicht wissen, dass sie in diesem Moment alles von sich geben. Frustrierender sind in diesem Moment oft die Moderatoren, die solche Sendungen führen, weil in ihren Fragen sehr oft Überheblichkeit herauszuhören ist.

Die westliche Welt verspricht vielen grenzenlose Möglichkeiten. Von Kindheit an sind mehr und mehr Systeme vorhanden, worin Menschen sich weiter entwickeln können. Niemandem wird verwehrt, sich weiterzubilden. Die Erziehung ist heute weitgehend so auf das Kind ausgerichtet, dass dem späteren Jugendlichen und Erwachsenen schon so viele Vorgaben erfüllt sind, dass er, im Gegensatz zu der jetzigen Generation von 60-Jährigen, viel mehr Zeit und Raum zur Verfügung haben wird, sich sehr persönlichen elementaren innerlichen Fragen zu stellen. Die in den 80er-Jahren so richtig begonnene Frauenemanzipation, die heute noch starke Ausläufer besitzt – der Scheidungsentscheid kommt immer noch von den Frauen -, hat zur Folge, dass die Kinder sich an ein völlig anderes Mann/Frau-Beziehungssystem gewöhnen. Und nicht alle Eltern begehen einen Rosenkrieg. Diese Lebenserfahrung vieler Jugendlicher wird in Zukunft neue Beziehungs-und soziale Netzwerke ergeben. Diese Jugendlichen werden aber nicht mehr diesen Krampf haben, wie ihn die meisten heute ab 35 durchmachen müssen. Viele Beziehungs-und soziale Begegnungskonzepte werden heute neu geschrieben. Geschrieben ist vielleicht noch übertrieben, eher labormässig geschrieben. Die Vielzahl an Sachbüchern, wie man das Leben leben soll, ist ja enorm.

Der Unterschied zwischen den 35- bis 50-Jährigen und den jetzigen Jugendlichen wird sein, dass die Jugendlichen kaum mehr eine Abwehrhaltung mit sich herumtragen. Ihre geistige und emotionale Entwicklung wird sich der Geschwindigkeit, die um sie herum herrscht, anpassen. Ein weiterer wichtiger Faktor, vermutlich einer der wichtigsten überhaupt, ist, dass es eine androgyne Renaissance geben wird. Die vergangene androgyne Phase war ein erster Schritt, um Mann und Frau aus der patriarchalischen Herrschaft herauszureissen und aufzuzeigen, dass es im Grunde, wenn man die biologische Aufgabe beiseite legt, kaum Unterschiede gibt. Zudem war es der grosse Wunsch von beiden Geschlechtern nach dem Niederreissen der konservativen Beziehungskonzepte, sich einander in ihrem Wesen zu offenbaren und sich versöhnlich zu zeigen. Manchmal konnte man meinen, beiden Seiten tue es leid, dass es bin anhin so schmerzlich zwischen Mann und Frau gelaufen ist. Die romantische Liebe gewann erst ab der Mitte des 20. Jahrhunderts an Bedeutung, davor musste man froh sein, einen Reproduktionspartner zu bekommen. Und die Liebe wurde zur Ersatzreligion, wurde zu einer Art Finden des heiligen Grals für jedermann.

Man sollte also die Aussage «ALLES oder NICHTS» in keiner Weise unterschätzen oder verächtlich beantworten mit: «Aha, du willst den Fünfer und s Weggli.» Es kann durchaus bedeuten, dass hier ein Mensch ist, der sich weit mehr Gedanken über sich selbst macht, als man in ihn hineinprojiziert. Das kann also durchaus ein Mensch sein, der fähig ist, sich selbst zu reflektieren und sich selbst alle Schwächen einzugestehen, und diese einzeln mit sich selbst aufs Tablett zu bringen und daran zu arbeiten. Und wenn es um die elementare Frage geht: «Wie lebe ich eine Beziehung zu einer anderen Person?», besteht durchwegs die Möglichkeit, dass diese Person, sich in den anderen so weit hineinversetzen kann, dass er sich nicht mehr nur als männlich oder weiblich empfindet, sondern als androgyn, ohne sein Äusseres diesem Merkmal zu unterwerfen. Ein Mann muss wissen, dass in ihm auch eine Frau wohnt, und eine Frau muss wissen, dass in ihr auch ein Mann wohnt. Wenn es zu Verletzungen durch Begegnungen kommt, kann man dadurch vielleicht die Handlungsweise des anderen Geschlechts besser verstehen.

Dazu kommt ein wichtiges Merkmal. Wenn man eines Tages keinerlei  Beziehungsängste zu sich selbst mehr hat – man sollte ja zuerst zu sich selbst eine gute Beziehung aufbauen -, dann ist es denkbar, dass man von sich selbst behaupten kann: mein Wesen ist Mann oder mein Wesen ist Frau, doch mein Geist ist androgyn. Es kann durchaus möglich sein, dass durch dieses Bewusstsein sich die beiden Gehirnhälften, die bis anhin wissenschaftlichen Aussagen unterworfen waren wie typisch Mann, typisch Frau, im Gehirn neue synaptische Verbindungen bilden können. Es ist sowieso die grosse Frage zu stellen, weshalb muss Mann vor Frau Angst haben und Frau vor Mann? Oder ist diese Angst nur deshalb oft so stark, vor allem beim Manne, weil er eine Art psychische Abnabelung bis in jede Faser erleben muss? Oder der Gedanke, der bei vielen Frauen heutzutage noch herrscht, eine Frau müsse in der Businesswelt mehr beweisen als ein Mann, wird dann völlig gegenstandslos sein. Der Mann kann erkennen, dass seine Angst nur auf der Leere aufgebaut ist, dass er seinen weiblichen Teil von sich abspaltet. Wenn er einer Frau begegnet, die dann noch gerne diesen ganzen «Kerl» will, der ihr jede Sicherheit bieten soll, dann kann der Mann, ohne sich nur im Geringsten in seinem Stolz verletzt zu fühlen, der Frau ein Lächeln zuwerfen mit dem Gedanken: «Ja, dann such mal schön weiter nach deinem illusorischen Helden.» Oder die Frau, die glaubt, im Business von den Männern grundlegend abgelehnt zu werden, wird bei einer androgynen geistigen Lebensweise erkennen, dass manche Männer still und heimlich es sehr wünschen, von der weiblichen organisatorischen und feinfühligen Vorgehensweise begleitet zu werden. Und der Mann einfach will, dass die Frau nicht in seinen Raum, seine Aura eindringt.
Ein zusätzlicher wichtiger Faktor, der sich vermutlich neutralisieren wird und viele, wie heute, auch die Jugendlichen, nicht mehr so überfordern wird, ist die Sexualität. Durch die Annahme des anderen geschlechtlichen Teiles in sich selbst wird die Bestätigung durch das andere Geschlecht nicht mehr diese Dramatik und diesen Drang in sich bewirken. Man liest und hört ja zunehmend, dass der Mann sich hingeben und die Frau gerne ihre unterdrückte Anima erleben will. Heutzutage sind diese Themen noch bei vielen nur ansatzweise ein Thema. Bestimmt wird die nächste oder übernächste Generation damit kaum mehr ein Problem haben. Der Unterschied zwischen Mann und Frau wird immer bestehen bleiben, die Sichtweisen verlagern sich einfach von aussen nach innen. Man sucht in sich selbst, alleine oder zusammen mit anderen. Das Wort «Beziehung» bekommt eine andere Bedeutung. Man will alles wissen oder so viel, wie es nur geht. Alles kann den Ansporn haben, mehr zu wagen, mehr zu fragen, mehr auszuhalten und mehr zu empfinden. Es ist kein Wunder, dass man heutzutage mehr redet, als man handelt, man will wissen. Einfach ALLES!|